Ein Kopf voller Gedanken

Das Wichtigste ist irgendwie unwichtig

Gedanken über den Umgang mit Kindern und Jugendlichen während der Corona-Krise

„Die Wissenslücken müssen wieder aufgeholt werden.“

So die weit verbreitete Sorge.

Aufgrund der bundesweiten Schulschließungen.

Viele Schüler:innen waren seit Mitte Dezember nicht mehr in der Schule.

Homeschooling.

Fernlernunterricht.

Videokonferenzen.

Moodle-Abgaben.

Die Motivation sinkt.

Mit jedem Tag mehr.

Viele Schüler:innen können einfach nicht mehr.

Haben psychische Probleme.

Leiden.

Kinderpsycholog:innen haben lange Wartezeiten.

Eltern sind am Rande ihrer Kräfte.

Und die größte Sorge scheinen die Wissenslücken zu sein.

Jetzt nur schnell so viel wie möglich aufholen.

In der Zeit von den Pfingst- zu den Sommerferien.

Wenn die Schulen wieder so langsam öffnen.

Die Kinder mit Stoff zuballern.

So viel Wissen wie möglich in sie reinprügeln.

Aber ist es wirklich das, was sie benötigen?

Ist Schule nicht viel mehr?

Sollte Schule nicht viel mehr sein?

Ein Ort zum Wohlfühlen?

Ein sozialer Treffpunkt von Gleichaltrigen?

Ein Ort der Beziehung?

Ich bin selbst Lehrerin.

An einer Realschule im sozialen Brennpunkt einer Großstadt.

Und mit Fernlernunterricht macht mein Job keinen Sinn.

Beziehungsgestaltung über die Ferne.

Kaum machbar.

Enger Kontakt und Begegnung.

Findet nicht statt.

Für mich ist Schule nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung.

Für mich ist sie mehr als das.

Und das sollte sie auch sein.

Ist Wissen denn das Einzige, was Kinder und Jugendliche benötigen?

Ja, Wissen ist wichtig.

Ja, Bildung ist notwendig.

Aber Wissen und Bildung können nur über Beziehungen weitergegeben werden.

Nicht über Bildschirme.

Fernlernunterricht.

Ja, diese Corona-Krise ist für viele nicht einfach.

Wir wünschen uns alle unser altes Leben zurück.

Die Freiheiten.

Die Umarmungen.

Das Vertrauen.

Manchen hat die Krise weniger ausgemacht.

Manche haben viel verloren.

Ich beschränke mich hier auf die Gruppe der Kinder und Jugendlichen.

Weil ich selbst Kinder habe.

Und mit Jugendlichen arbeite.

Und was diese Krise klar und deutlich gezeigt hat, ist:

Kinder und Jugendliche haben keine Lobby.

Sie dürfen nicht wählen.

Und zählen deshalb nichts für die Politik.

Oder nur wenig.

Oder warum sonst wurden über den Sommer 2020 keine guten Konzepte entwickelt?

Für Schulen und Kitas?

Warum wurden sie wieder so lange geschlossen?

Warum wurde den Eltern die komplette Betreuung ihrer Kinder auferlegt?

Wie genau hat sich die Politik das denn vorgestellt?

Ja, wahrscheinlich haben sie sich ihre Gedanken dazu gemacht.

Aber wer trifft dort die Entscheidungen?

Das sind keine Kinder und Jugendlichen.

Keine Eltern, die neben dem Homeoffice noch Kinder zum Lernen motivieren sollen.

Und auch keine Lehrer:innen oder Erzieher:innen.

Also keine wirklich Betroffenen.

Denn sonst hätte es Konzepte gegeben.

Um die Schulen und Kitas weniger lang schließen zu müssen.

Oder vielleicht auch gar nicht.

Sonst wäre mehr Wert auf die psychische Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen gelegt worden.

In Deutschland wurde eine repräsentative Studie dazu erstellt.

Die COPSY-Studie.

In dieser werden die Auswirkungen und Folgen der Corona-Pandemie untersucht.

Auf die seelische Gesundheit.

Das Wohlbefinden.

Von Kinder und Jugendlichen in Deutschland.

Sie veröffentliche letztens einige erschreckende Zahlen.

24,1% aller Kinder und Jugendlichen zeigen eine Zunahme an Ängsten und Sorgen.

Viele Kinder leiden unter deutlich mehr häuslicher Gewalt als vor der Krise.

Ein Drittel aller Kinder zeigen psychische Auffälligkeiten.

Vor der Krise waren dies lediglich 17,6%.

Kinder und Jugendliche leiden unter Bewegungsmangel.

Ihnen fehlt der Kontakt und die Interkation mit Freund:innen.

Das Gesundheitsverhalten der Kinder und Jugendlichen ist erschreckend.

Zwei Drittel berichten von einer Zunahme ihres Medienkonsums.

Ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen macht gar keinen Sport mehr.

Und ein Viertel isst mehr Süßigkeiten als vor der Krise.

Es sind vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen betroffen.

Familien, die beengt wohnen.

Die einen Migrationshintergrund haben.

Die Bundsregierung reagiert auf ihre Art und Weise darauf.

Zwei Milliarden Euro gehen in das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“.

Dabei geht es aber hauptsächlich um ein Nachholprogramm von Lernrückständen.

Weil dies wohl die schlimmsten Nebenwirkungen von allen sind.

Soziale Kompetenzen und die allgemeine Persönlichkeitsentwicklung sollen nebenbei auch noch berücksichtigt werden.

Aber auch nur nebenbei.

„Unser Aktionsprogramm investiert gezielt in das Wertvollste und Wichtigste, was wir haben:

In unsere Kinder und Jugendlichen.

In unsere Zukunft.“

So die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey.

Kommt dies nicht reichlich spät?

Und mit einem falschen Ansatz?

Warum wird erst reagiert, wenn schon so viel Leid passiert ist?

Wenn die Warteschlangen in der Kinderpsychologie so unendlich lang sind?

Warum werden nicht zusätzlich mehr Therapieplätze geschaffen?

Für unsere pandemiebelasteten Kinder und Jugendlichen?

Warum nicht mehr Plätze in Frauenhäusern?

Warum musste es überhaupt so weit kommen?

Und plötzlich ist das Amt des Familienministeriums auch noch unbesetzt.

Eine Nachfolge ist nicht in Sicht.

Ein wirklich starkes Signal für alle Familien.

Da wurde man gefühlt schon davor im Stich gelassen.

Und wird es nun wirklich.

Von der Politik.

Von unserer Regierung.

Und verständlicherweise gibt es daraufhin Kritik.

„Wer braucht schon ein Familienministerium?

Gerade in Zeiten der Pandemie.

Unter der Familien, Kinder und Jugendliche besonders leiden.“

So Lisa Seelig, eine Redakteurin von Edition F.

„Wir haben im vergangenen Jahr gemerkt, dass wir als Familien eigentlich so gut wie gar nichts brauchen.

Schule nicht, Kita nicht.

Vernünftige digitale Ausstattung fürs Homeschooling nicht.

Luftfilter für Schulen nicht.

Denn es gibt ja Fenster und Fleecejacken.“

Ich kann das nur unterschreiben, was Lisa Seelig sagt.

Und finde es einfach nur traurig.

Traurig, wie wenig anscheinend Kinder und Jugendliche Wert sind.

Wie wenig sie wirklich zählen.

Weil sie keine Lobby haben.

Keine Wähler:innen sind.

Sich kaum wehren können.

Zum Beispiel gegen eine Testpflicht.

Entweder testen oder Fernlernunterricht.

Das sind ihre einzigen Wahlmöglichkeiten.

Erwachsenen ist so etwas nicht zuzumuten.

Vor allem nicht in der freien Wirtschaft.

Sie müssen nicht unbedingt Homeoffice machen.

Die Firmen waren nie geschlossen.

Sie dürfen zur Arbeit kommen.

Testen lassen müssen sie sich auch nicht.

Wäre ja Freiheitsberaubung.

Aber ja, ich vergaß:

Sie sind ja auch so vorbildlich und können Abstand halten.

Im Gegensatz zu Kinder und Jugendlichen.

Ich weiß, ich werde zynisch.

Aber ich bin es einfach leid.

Und finde es in keinster Weise fair.

Es wäre auch anders möglich gewesen.

Davon bin ich überzeugt.

Die Schulen und Kitas hätten niemals so lange geschlossen werden müssen.

Für Kinder und Jugendliche hätte mehr getan werden können.

In dieser Hinsicht hat unsere Politik versagt.

Und tut es leider weiterhin.

So sehe ich das.

Ich wünsche mir einfach einen anderen Umgang.

Eine andere Betrachtungsweise.

Einen anderen Blickwinkel.

Denn Kinder und Jugendliche sind unsere Zukunft.

Sie sind gleichwertige Menschen.

Wirklich wichtig.

Und kein Spielzeug.

Ich setze mich für sie ein.

In meinem Umfeld.

Mit meiner Stimme.

So gut es eben geht.

Bist du dabei?


Quellen:

COPSY-Studie: https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-021-03291-3#Sec6

Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/kinder-und-jugendliche-nach-der-corona-pandemie-staerken-178888

Beitrag von Lisa Seelig (Edition F): https://editionf.com/wer-braucht-schon-ein-familienministerium/

 


Foto von Irma Karpf: https://www.instagram.com/irmakarpf.fotografie/

2 Kommentare

  • Damaris

    Liebe Esther,
    Vielen Dank für deinen Beitrag! Du sprichst mir aus der Seele!
    Da gibt es fast nichts hinzuzufügen..

    Beim 1. Lockdown waren wir alle erstmals überfordert. Da konnte ich es ein bisschen verstehen das man alles zu gemacht hat. Aber ich frage mich warum die Politik nicht daraus gelernt hat? Nach dem 1. Lockdown kam ja schon die Kritik an dem Schulschließungen. Ehrlich gesagt war ich im Dezember total überrascht das die Schulen wieder schließen. Ich hätte es mir nicht vorstellen können..

    Das schlimme ist das viele Kinderärzte aufgestanden sind und protestiert haben und sie wurden einfach nicht von der Politik gehört. Und dann frag ich mich – warum nicht?

    Es ist wirklich schade, denn sie können nicht sagen, das es nicht absehbar war. Denn es kamen einiges Dokus, Berichte, Zahlen und Statistiken raus. Sie wollen nicht hören. Irgendwie fühlt es sich so an dass es gewollt ist.

    Und ich selbst kann schon fast keine Dokus mehr sehen in denen es um Kinder im Lockdown geht. Weil es mir so im Herzen weh tut.

    Ich bin gespannt was noch so alles kommt.. mit dem ganzen Impfen.. das nicht geimpfte Kinder benachteiligt werden, und weiter ihre Grundrechge nicht haben. Sowie die nichtgeimpfte Erwachsenen..

    Jeder Mensch ( egal ob Groß oder klein) hat ein Recht auf seine Grundrechte.

    Und das ohne irgendwelche Impfungen oder Selbsttest, …

    Und bleibt nichts anderes übrig, als weiter Zusammenzuhalten und Uns gegenseitig zu unterstützen und zu helfen. Wie du es ja schon gesagt hast!!

    Seid lieb gegrüßt!!

    Deine Damaris

  • Susanne

    Danke liebe Esther!
    Leider alles so wahr und traurig. 🙁
    Und ich fühle nich so unendlich hilflos – nach wie vor.

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